Im ersten Teil, habe ich mich dem "zu" großen Bedürfnis nach Autonomie gewidmet, dass zu steht in Anführungszeichen, denn ob das Bedürfnis eines Menschen zu groß ist, liegt grundsätzlich in seinem oder ihrem ganz eigenem Ermessen.
Vielleicht ist sein Bedürfnis nach Autonomie aus Deiner Sicht zu groß, das mag sein. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Dein Bedürfnis nach Nähe zu groß ist und vielleicht seid ihr beide gerade nur in einer anderen Lebensphase, in der andere Dinge Priorität haben und es so zu einem Ungleichgewicht gekommen ist oder kam. Auf diese Aspekte werde ich im dritten Teil nochmal näher eingehen, auf die Kombination verschiedener Bindungstypen oder auch auf die verschiedenen Lebensphasen.
Also, was erwartet Dich in diesem 2. Teil konkret:
Zunächst gibt es eine kleine Einleitung, Behaviorismus vs. Humanismus, keine Sorge, nicht länger als eine Minute und das bisschen Bildung to Go schadet ja auch nicht. Für die aufmerksamen Hörer, ja, genau dieser Satz wurde auch schon im ersten Teil gesagt und es wird, zumindest in dieser Einleitung kleine Wiederholungen geben, ich gehe auch hier, sehr kurz, auf die Bindungstheorie ein, beschreibe das wissenschaftliche Setting zur „Fremden Situation“ um die Bindungstypen an Hand dessen zu erläutern, bevor ich mich den Schlussfolgerungen für einen erwachsenen Menschen widme.
Wie gewohnt gibt es dann einen fiktiver Dialog, ein paar kleine Impulse dazu im Anschluss, bevor ich mich dann ganz konkret den Ursachen und Folgen für einen Menschen mit einem „zu“ großen Bedürfnis nach Nähe und einhergehender Angst vor dem Alleinsein widme.
Wenn sein / ihr Bedürfnis nach Autonomie oder Nähe zu groß ist und war, dann tut es zwar weh, aber dann ist es ja gut, dass ihr euch getrennt habt, denn die Verletzung durch seine oder ihre Unverbindlichkeit oder eben Einengung und Vorwürfe taten ja auch weh.
Gleichzeitig kann eine Theorie, ebensowenig wie eine Diagnose einen Menschen mit all seinen Facetten und Themen abbilden, sie dient maximal dazu, gewissen Muster zu verstehen und mit Hilfe dieser Erkenntnisse kann Erleichterung einsetzen und das Verständnis, sowie die Akzeptanz helfen bei einer Veränderung - sofern diese angestrebt wird.
Ich möchte hier niemanden stigmatisieren oder Menschen mit einem hohen Nähebedürfnis bloßstellen. Daher nochmal: Ob Dein Bedürfnis ZU groß ist, entscheidest Du allein.
Abschließend widme ich mich den Möglichkeiten sich zu verändern, durch kleine Impulsfragen und Reflexionen.
Behavioristen & Humanisten
Die Behavioristen gingen davon aus, ganz platt gesagt, dass man Babys und Kindern helfen muss, damit aus ihnen gute Kinder werden würden. Platt gesagt, wir werden als egozentrische Tyrannen geboren, die Welt dreht sich um uns und erst durch Erziehung werden wir zu sozialen, kooperativen Wesen.
Der Humanismus allerdings geht davon aus, das jeder Mensch im Kern gut ist und auch danach strebt gut zu sein. Kinder sind von Natur aus kooperativ, wir müssen sie nicht formen und erziehen, sondern lediglich ideale Bedingungen schaffen, damit die Kinder sich selbst und ihre Persönlichkeit entfalten.
Statt also ein Baby schreien zu lassen, damit es lernt sich zu benehmen, reagieren wir auf die Bedürfnisse des Kindes.
Die Bindungstheorie besagt, dass Eltern prompt und angemessen in mindestens einem drittel aller aller Fälle auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren sollten, hier reicht häufig zunächst erstmal das Wahrnehmen und somit auch Annehmen und Akzeptieren der kindlichen Bedürfnisse, auch und obwohl wir diese gerade vielleicht nicht stillen können oder wollen.
Gleichzeitig gilt jedoch, wie bei jeder „guten Theorie“, die Entwicklung des Kindes und auch die Bindung des Kindes geschieht nicht einzig und allein durch das stillen sämtlicher Bedürfnisse. Bindung und bedürfnisorientierte Beziehung bedeuten nicht, dass das Kind permanent bekommen muss und soll, wonach es gerade verlangt, hierbei würde das Erlernen der Impulskontrolle und Frustrationstoleranz nicht ermöglicht und auch die Emotionsregulation sollte mit dem älter werden des Kindes nicht stellvertretend übernommen werden. Denn wichtig ist eben auch der Aspekt der authentischen Beziehung, wenn mein Kind traurig ist, weil ich mich gerade um das Essen kümmere oder ein Buch lesen und in Ruhe Kaffee trinken möchte und nicht um sein aktuelles Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, dann kann ich sein Bedürfnis anerkennen ohne es zu stillen. Langfristig bin ich ein gutes Vorbild, in dem ich zeige, dass die eigenen, also auch meine Bedürfnisse, wichtig sind, das Kind lernt Frust auszuhalten, ich bin dennoch da und erkenne auch seine Gefühle wie Trauer an, indem ich ihm nicht sage, dass es nicht traurig sein darf, aber durchaus zu meinem Wort stehe, dass ich jetzt gerade eine Pause brauche. Wenn ich mich jedoch aufopfere und eigentlich kaum mehr stehen kann, genervt von ihm bin und dennoch ein Spiel spiele, bin ich nicht authentisch und mein Kind erfährt subtile Ablehnung.
Die ersten Bindungserfahrungen.
Diese sind so prägend und wichtig, sie wirken sich auf sämtliche Bereiche und sämtliche Beziehungen in unserem Leben aus, nicht nur auf freundschaftliche oder intime Beziehungen, auch auf die Beziehung zu uns selbst.
Gehen wir nun einmal zurück zum Baby und den Entwicklungsphasen des Kindes, bis zum Alter von 18 Monaten brauchen wir vor allem Nähe, ohne sie würden wir nicht überleben. Wir sind nicht autonom. Erst wenn unsere Motorik es zulässt können wir langsam anfangen autonom(er) zu handeln, hierbei bedarf es weiterhin ausreichend Nähe und einer sicheren Bindung um neue Erfahrungen zu machen. Das lässt sich hervorragend an Kleinkindern beobachten, die in neuen Situationen immer wieder Blickkontakt zu den Bezugspersonen suchen. Sie suchen nach Bestärkung, sichern sich ab, trauen sich die Rutsche alleine hochzuklettern, weil Mama oder Papa ihnen aufmunternd zulächeln. Um uns weiterzuentwickeln und zu wachsen bedarf es auch später, im Erwachsenenalter immer wieder einer gewissen Sicherheit.
Veränderungen und Neues ist oft mit Unsicherheit und Angst verbunden, je mehr Sicherheit wir bisher erleben durften und je größer unser Selbstvertrauen, desto größer auch unser Mut, uns auf Neues einzulassen und durch das Neue zu wachsen, zu reifen und uns selbst zu aktualisieren. Je größer oder stärker unser Urvertrauen und je sicherer gebunden wir sind, desto mehr trauen wir uns zu und desto mehr Kraft ziehen wir auch aus uns selbst.
Während der zweijährige noch zu seiner Mama schaut, wenn er eine Rutsche hochklettern will, wird ein 6-jähriger einfach die Rutsche hochklettern, er hat ausreichend Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Er weiß, dass er die Rutsche problemlos hochklettern kann und keine Gefahr zu befürchten hat.
Unser Bindungsprogramm verändert sich, passt sich der Situation an, da in der Regel die Eltern sehr lange eine wichtige Rolle in einer sehr prägenden Phase spielen, haben diese Bindungserfahrungen einen sehr großen Einfluss auch auf unser Bedürfnis nach Nähe und Autonomie im späteren Leben. Genauso wie ein sicher gebundener 6-jähriger im Alter von 10 Jahren ein Trauma erleben kann und hierdurch ggf. die sichere Bindung verliert, kann auch ein desorganisiertes Kleinkind später durch eine verlässliche und zugewandte Bindung Selbstvertrauen aufbauen.
So oder so, wird der Grundsein in unserer Kindheit gelegt und diese Erfahrungen können unsere Tendenzen im weiteren Verlauf des Lebens erklären.
„Fremden Situation“ Setting von Mary Ainsworth zur Erforschung kindlicher Bindungsmuster
Hier verlässt die Bezugsperson den Raum und kehrt kurze Zeit später zurück.
Dialog mit Karsten
„Ich hab das Gefühl ich muss es immer allen Recht machen und am Ende bin ich doch der Blöde. Ich fühle mich so ungesehen und so unverstanden.“
Es brach direkt aus Karsten heraus, unmittelbar nachdem er Platz nahm. Er folgte mir schon lange, erkannte sich irgendwie in jedem Thema wieder und nahm nun allen Mut zusammen zu mir zu kommen.
„Das ist so anstrengend und frustrierend. Du fühlst Dich so alleine...“, sage ich.
„Ich bin vor allem wütend!“
„...und enttäuscht“, ergänze ich.
Er schaut mich direkt an und wehrt sich scheinbar gegen die Tränen, die sich in seinen Augen bilden…: „Warum? Warum reiche ich nicht? Ich tue alles für meine Frau, meine Kinder, meine Eltern. Aber keiner weiß das zu schätzen, sie sehen mich nichtmal“, fährt Karsten fort.
„Und das tut so weh, Du bist so verzweifelt und hilflos...“, sage ich.
„Was soll ich denn noch tun? Und wie sehr muss ich mich noch zurücknehmen?“
„Das kostet so viel Kraft, immer und ständig die Verantwortung für alle Anderen zu übernehmen!“
„Ja! Und niemand übernimmt mal Verantwortung für mich... ich würde mich auch gerne mal fallen lassen, aber dann bricht alles zusammen“, ergänzt er.
„Und deswegen kämpfst Du schon Dein ganzes Leben!“
Karsten sackt nun in sich zusammen. Da ist endlich mal jemand der ihn versteht, ihm nicht sagt, dass er das ja nicht müsse. Die Tränen laufen nun langsam an seinen Wangen hinunter… „Schon als Kind musste ich mich so anstrengen und alle haben nur gesehen, wie mir scheinbar alles zufällt, niemand kam auf die Idee mal meine Anstrengung anzuerkennen. Ich mache und tue und schlucke. Ich kann nicht mehr...“
Diesen Dialog zu verfassen, fiel mir alles andere als schwer. Diese Sätze kenne ich nur zu gut, von mir selbst, von den Menschen, die zu mir in die Praxis kommen. Von dem Mann, der mit seiner Frau in einer Paartherapie sitzt und auch von der Frau, die mit ihrem Mann oder ihrer Frau in der Paartherapie sitzt. Ich möchte hier niemanden exkludieren, allerdings hatte ich bisher noch nie zwei Männer bei mir in der Paartherapie und auch keine Menschen die sich nicht „eindeutig“ mit ihrem Geschlecht definiert haben.
Da ich hier nun jedoch nicht für und über die Menschen sprechen möchte, die sich bei mir im Prozess befinden oder befunden haben, spreche ich nun aus meiner Perspektive:
Dieser Dialog ist eng mit meinem eigenen Selbstliebe-Dilemma verknüpft:
„Ich muss es immer allen Recht machen, ich muss mich anstrengen und darf niemandem zeigen, wie sehr. Ich darf nicht einfach sein, weil ich so wie ich bin nicht reiche.“
So der Glaubenssatz, der sich irgendwann verfestigt hat.
Man macht es allen Recht, man lernt sich anzupassen, zu gefallen, man zeigt sich so, wie man glaubt, dass man sich zeigen sollte und irgendwann zeigt man sich so, wie man sein will. Ohne es zu sein.
Ohne es zu sein.
Ein Satz der mich mit voller Wucht getroffen hat. Ein Satz, den ich nicht annehmen wollte. Ein Satz, der so bedrohlich war, weil das ja im Umkehrschluss bedeutet, dass ich nichts bin. Zumindest nichts, was gut ist, oder genug ist.
„Wenn ich nicht diese fröhliche, mutige, freche, selbstbewusste und starke Frau bin, was bleibt? Ein kümmerlicher Rest aus Zweifeln und aus Ängsten. Nichts liebenswertes.“
So die Gedanken. Und daher fiel es mir jahrelang so schwer diese Seite in mir anzunehmen. Dieses Bedürftige. Dieses Ängstliche. Die kleine Jenni.
Ich wollte einerseits genug sein. Mein weg war nur der „Falsche“, ich habe geglaubt, ich müsse etwas tun, um genug zu sein.
Dabei war ich schon immer genug. Doch es gab Menschen, die mir, vielleicht ohne es zu wissen, suggeriert haben, ich sei es nicht.
Und danach war „ich“ es vielleicht ab und zu, aber es fühlte sich für mich nie so an, denn was ich war, war nur ein Teil von mir, nur das Sonnenkind. Nur der Teil der stark, lustig und fröhlich war. Aber der Rest war es eben nicht.
Nähe erfordert sich anzupassen.
Ein zu großes Bedürfnis nach Nähe bedeutet die Bereitschaft zu haben, sich gänzlich aufzuopfern und zu verlieren, nur um geliebt zu werden. Und das tat ich. Unzählige Male. Ich hielt es nie wirklich durch.
Einerseits gab es ja nichts, was ich hätte verlieren können, denn wer war ich schon? Andererseits, war meine Sehnsucht danach geliebt zu werden so groß, dass ich den Preis vermutlich gezahlt hätte, auch wenn ich ihn gekannt hätte.
Der Wunsch nach Nähe - Die Angst vor dem Allein sein
Menschen die ein sehr ausgeprägtes Bedürfnis nach Nähe haben und somit Angst vor Autonomie, haben eher die Erfahrung gemacht, dass es nicht genug Sicherheit gab. Sie haben vielleicht zur Mama geschaut, als sie die Rutsche hochklettern wollten, aber Mama hat nicht reagiert, vielleicht haben sie es dennoch gemacht und sind runtergefallen oder aber sie haben es gar nicht erst versucht. Sie durften seltener ihren Willen durchsetzen. Sie durften kaum Emotionen zeigen. Ihnen wurde das Gefühl gegeben, dass sie anstrengend und nicht liebenswert sind, wenn sie sich nicht anpassen. Sie sind oft gescheitert, fühlten sich nie sicher genug, zu sein, etwas zu verändern und Neues auszuprobieren. Sie haben gelernt, dass ihre Bedürfnisse unerwünscht sind und sie sich anpassen müssen um geliebt zu werden und die Sicherheit und Bindung zu erfahren, die sie brauch(t)en. Die Beziehung zu den Eltern war unberechenbar, mal wurden sie für ihr Verhalten gelobt und mal erfuhren sie durch das gleiche Verhalten Ablehnung. Daher waren Sie immer auf der Hut und haben versucht die Bedürfnisse der Eltern zu lesen und sich nach den Eltern oder Bezugspersonen zu richten. Sie wollten gefallen. Die Anerkennung die es gab, wurde ihnen genauso schnell entzogen. Diese Menschen werden oft mit einem Fass ohne Boden bezeichnet, die Liebe und Anerkennung die sie bekommen scheint nie zu reichen. Sie neigen auch als Erwachsene dazu, es allen Recht machen zu wollen, das bedeutet, sie versuchen die Bedürfnisse anderer zu verstehen und zu erfüllen, noch bevor diese ausgesprochen wurden. Hierdurch entwicklen sie ein Verständnis von Liebe, das besagt, dass der Andere meine Erwartungen erfüllen muss, ohne dass ich diese zur Verfügung stelle. Ihnen fällt es schwer um Hilfe zu bitten, weil sie Gefahr laufen, dann abgelehnt zu werden, gleichzeitig helfen sie anderen und sind traurig darüber, dass niemand ihre Not sieht, die sie ja leider auch nicht zeigen dürfen, weil sie dann als anstrengend gelten.
Menschen die ein hohes Bedürfnis nach Nähe haben und selbst darunter leiden, lassen sich vor allem dem unsicher-ambivalentem Bindungstyp zuordnen. Dennoch gilt auch hier, dass die Angst vor dem Alleine sein oder ein „zu hohes“ Bedürfnis nach Nähe nicht grundsätzlich und alleine auf den Bindungstypen zurückgeführt werden muss und kann.
Die Folgen als Erwachsene Person
Grob zusammengefasst trifft folgende Beschreibung häufig zu: „Ich wünsche mir Sicherheit durch Verbindlichkeit; wenn ich diese habe, muss ich alles tun, sie nicht zu verlieren, sofern ich der vermeintlichen Sicherheit überhaupt trauen kann. Ich versuche es allen Recht zu machen.“
Wenn wir uns diese Aussage nun genauer anschauen steht Sicherheit an erster Stelle… Sicherheit durch Verbindlichkeit. Zur Verbindlichkeit zählen auch Aspekte wie Verlässlichkeit. Angefangen bei klaren Strukturen, Ritualen bis hin zu Plänen, Listen und zur Kontrolle.
Das „Fallen lassen“ oder auch Spontanität fällt schwer. Unvorhersehbare Aspekte oder Veränderung sorgen für ein Unwohlsein bis hin zur Angst.
Menschen die sich selbst als sehr Nähebedürftig einstufen, sprechen oft davon, dass es ihnen Angst macht, wenn sie etwas Neues ausprobieren müssen oder ihnen die vermeintliche Kontrolle abhanden kommt. Teilweise belächeln sie sich selbst dafür, werten sich ab oder verspüren gar Ärger oder Wut, wenn sie aussprechen, dass sie gerne die Kontrolle behalten.
Verbindlichkeit bezieht sich also nicht ausschließlich auf Beziehungen, sondern auf fast jeden Aspekt des eigenen Lebens. Sich auf etwas oder jemanden verlassen zu können, ist ihnen nicht nur wichtig, sondern es gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit mit der sie ihr mangelndes Vertrauen ausgleichen können.
Häufig haben sie in ihrer Kindheit unberechenbare Bezugspersonen erlebt, aber auch plötzliche, unberechenbare Ereignisse können Auslöser und Grund für das sehr hohe, gar zu hohe Bedürfnis nach Nähe sein.
Vielleicht war, eine Bezugsperson sehr launisch und unauthentisch, bei der man nie wusste, woran man war.
Mir fällt es schwer hier eine durchdachte Reihenfolge aufzulisten, weil ich dann anfangen müsste zu bewerten: Was ist schlimmer? Bei einer ungeordneten Reihenfolge könnte aber der Gedanke aufkommen, dass ich hier Missbrauch und einen Umzug in die gleiche Kategorie stecke. Dem ist nicht so. Mir ist es allerdings wichtig, darauf hinzuweisen, dass eben nicht nur „gesellschaftlich anerkannte“ Traumata - mir fällt leider keine bessere Formulierung ein - Auslöser für ein hohes Bedürfnis nach Nähe, oder eben einfach der erlebten Erfahrung von Unberechenbarkeit darstellen können.
Ein anderes Thema, das häufig zu Konflikten führt, wenn Menschen als Erwachsene starken Leidensdruck empfinden, weil ihnen in der Kindheit etwas fehlte, sie Letzteres jedoch nicht greifen können und sich somit selbst die Schuld geben und das Gefühl entsteht, man brauchte und braucht vielleicht zu viel. Diese Menschen belächeln ihr eigenes Leid dann und sagen so was wie: „Mir fehlte es ja an nichts. Kann doch nicht sein, dass ich jetzt noch darunter leide, dass Mama mich nicht umarmt hat!“ oder aber sie sagen: „Ich wünschte, dass es ein Traumata gäbe, dann wüsste ich wenigstens, dass es nicht an mir liegt!“
Dieser letzte Gedanke wird selten ausgesprochen, weil sie sich dafür schämen. Gleichzeitig zeigt ein solcher Gedanke die große Not und das große Leid, für das sie sich so sehr eine Erklärung wünschen… Erleichterung.
Ich versuche es mal irgendwie auf den Punkt zu bringen:
Wenn ich in frühen Jahren statt Sicherheit, Unberechenbarkeit erlebt habe, mir die Erfahrung gezeigt hat, dass meist das WorstCaseScenario eintrifft und ich somit weder Vertrauen in Menschen geschweige denn ins Leben gelernt und erfahren habe, dann suche ich selbstverständlich nach Strategien, wie ich das, was (vermeintlich) in meiner Macht steht zu kontrollieren und genau das hat oberste Priorität. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig und daher ist es mir möglich auf gewisse Dinge zu verzichten, den Preis zu zahlen und die Konsequenz in Kauf zu nehmen.
Und genau das, ist für viele Menschen so schwer greifbar. So schwer nachvollziehbar und so werden Menschen die eigentlich nur versuchen zu überleben abgewertet, belächelt oder bemitleidet.
• Die Frau die sich schlagen lässt ist doch selbst Schuld, sie könnte ja gehen.
• Der Mann der vor seiner Frau kuscht, hat wohl keine Eier in der Hose.
• Die Frau, die sich anpasst, wie Julia Roberts in dem Film: „Die Braut die sich nicht traut“, wird abgewertet, nicht verstanden.
• Der Mann der von seiner Frau betrogen wurde und dennoch bei ihr bleibt…
…ich könnte unzählige Beispiele nennen. Und damit sind wir auch schon fast bei den möglichen Strategien. Den Überlebensstrategien.
Ich füge hier einmal erneut diese kurze Zusammenfassung von gerade ein:
„Ich wünsche mir Sicherheit durch Verbindlichkeit; wenn ich diese habe, muss ich alles tun, sie nicht zu verlieren, sofern ich der vermeintlichen Sicherheit überhaupt trauen kann. Ich versuche es allen Recht zu machen.“
Ich versuche es allen Recht zu machen. Hier ist bereits eine der vielen Strategien genannt.
Man versucht es allen Recht zu machen und um dies zu tun, ist es enorm wichtig die Bedürfnisse des Gegenübers zu kennen. Für Menschen mit einem (zu) hohen Bedürfnis nach Nähe war und ist es enorm wichtig, die Stimmung, die Wünsche und die Gefühle des anderen rasch zu erfassen und nach Möglichkeit schon lange bevor etwas ausgesprochen wird, entsprechend darauf zu reagieren. Das kostet nicht nur Kraft, ist anstrengend und schwierig, sondern erfordert auch, sich selbst zurückzunehmen. Je nachdem wann und wie sehr sie diese Strategie erlernt oder sich angeeignet haben, wurde ihnen die Chance genommen ein Gefühl für sich selbst zu entwickeln.
Diese Menschen, zu denen Du vielleicht gehörst, sind teilweise sogar überfordert, wenn sie danach gefragt werden, was sie möchten, brauchen, sich wünschen, weil sie nie die Kapazität hatten sich mit sich selbst auseinanderzusetzen oder zu wachsen, sich zu entfalten.
Der einzige Wunsch, der dann ausgesprochen wird ist, dass da jemand ist, der sich so um sie kümmert und so auf sie aufpasst, wie sie es bei allen Anderen tun.
Das klingt vielleicht komisch, aber um es ganz plakativ zu verdeutlichen: Es ist der Wunsch, das Andere Gedanken lesen können.
Wenn sie dann so etwas sagen wie: „Ich wünschte er würde es einfach mal tun, ohne das ich ihn darum bitte!“, meinen sie das nur deswegen so ernst, weil sie das ja ständig tun. Sie kennen es nicht anders. Sie haben ihr Leben damit verbracht zu sehen und herauszufinden, was die Menschen wohl so brauchen.
Und dieses Verhalten birgt so viel Konfliktpotential:
1. Da sie ja so viel Angst davor haben, Sicherheit zu verlieren und ihnen beigebracht wurde, keine Belastung darzustellen, haben sie nie gelernt um Hilfe zu bitten, mehr noch, Hilfe zu brauchen ist so schambehaftet, dass sie lieber drauf verzichten was sie gerade brauchen oder tun wollen oder es eben selbst tun, auch wenn es wahnsinnig anstrengend ist.
2. Manche fangen an Menschen die ohne vermeintliche Probleme, bei jeder vermeintlichen Kleinigkeit, um Hilfe bitten abzuwerten oder aber sie werten sich selbst ab, in jedem Fall fällt es ihnen schwer Bedürftigkeit auszuhalten, nicht nur bei Ihnen selbst, auch bei Anderen. Manchmal geht es gar so weit, dass sie felsenfest davon überzeugt sind, keine Bedürfnisse zu haben und nichts zu brauchen - sehnen sich aber dennoch so wahnsinnig nach Nähe. Ein Dilemma.
3. Manche verzweifeln und sitzen dann bei mir in der Praxis und erklären mir, das sie IMMER angerufen werden, IMMER überall helfen müssen und wie frech und dreist und übergriffig das Verhalten der Anderen doch sei. Und genau hier wird deutlich wie furchtbar schwer es ihnen fällt sich abzugrenzen und „nein“ zu sagen, aber auch, was es für sie bedeutet um Hilfe zu bitten: Man ist eine Belastung, man ist übergriffig, frech und dreist!
4. Dadurch, dass es für sie so wichtig ist, es allen Recht zu machen und das erwünschte Verhalten zu zeigen, versuchen sie Gedanken zu lesen, doch nicht immer gelingt das. Sie wirken manchmal aufdringlich oder übergriffig und sind dann ganz erstaunt, wenn der Gegenüber so etwas sagt wie: „Darum habe ich Dich nie gebeten!“, dieser Satz fällt oft auch in dem Kontext, wenn Menschen mir in der Paartherapie erzählen was sie alles für den Anderen tun und wie wenig zurückkommt. Der Andere ist dann teilweise irritiert und teilweise auch enttäuscht, weil plötzlich deutlich wird, dass er/sie scheinbar gegen seinen/ihren Willen Dinge getan hat.
5. Entscheidungen fallen unglaublich schwer, weil derjenige oder diejenige die fragt, immer mitgedacht wird. Das geteilte Brötchen als Klassiker:
Ich (Jenni) mag eher die untere Seite des Brötchens. Wenn ich mir mit jemandem ein Brötchen geteilt habe und gefragt wurde, welche Seite ich möchte habe ich immer erst gesagt: Ist mir egal. Wurde ich dann jedoch zu einer Entscheidung genötigt, habe ich gesagt, dass ich gerne die obere Hälfte möchte. Warum? Logisch! Wenn mir die Erfahrungswerte fehlen, gehe ich von mir selbst aus. Und am Ende ist es ja auch nicht so wichtig. Hauptsache der Andere ist glücklich. Das Problem, hier noch sehr banal, meine Aufopferung wird nicht gesehen und kann nicht anerkannt werden. UND womöglich möchte der Andere eigentlich lieber die obere Hälfte und am Ende ists ein fauler Kompromiss. Ich kenne Paare, die haben ein Haus gekauft in einem Ort, in dem keiner der beiden wohnen will, aber sie haben dem Anderen unterstellt, dass er/sie sich das wünscht. Beide haben also ein großes Opfer für den Anderen gebracht und das wird a nicht gesehen und b wollten es beide nicht.
Wem es noch nicht klar ist, Liebe bedeutet Fürsorge und Liebe ist ein unsicheres Gefühl.
Hier werden mir nun einige zustimmen und andere die Augenbrauen zusammenziehen.
Liebe ist ein unsicheres Gefühl?!?
Wenn man so aufgewachsen ist, das selbst die eigentlich bedingungslose elterliche Liebe an Bedingungen geknüpft ist:
- das brave liebe Kind
- das unkomplizierte Kind
- das genügsame Kind
Und man genau dafür gelobt wird, dann ist die Liebe nicht sicher. Denn sie ist weg, sobald man nicht mehr angepasst ist. Manchmal hilft und half es nichtmal, wenn man lieb, unkompliziert und genügsam war, da reichte dann die bloße Existenz. Man wurde als Ventil der Bezugspersonen benutzt, angeschrien, obwohl man nichts gemacht hat, verprügelt, obwohl man einfach nur Kind war, oder man wurde einfach nicht gesehen obwohl man nichts Schlimmes gemacht hat.
Das die Schlussfolgerung somit ist, das Liebe kein sicheres Gefühl ist, ist naheliegend. Und woher soll man als Kind wissen, das Liebe Vertrauen, Beständigkeit und Sicherheit bedeutet?!
Im weiteren Verlauf verhält man sich bei Freunden und Partnern entsprechend angepasst, wird einem zu viel Sicherheit suggeriert, kann man dieser entweder nicht trauen - ODER - empfindet diese als befremdlich, gar langweilig.
Liebe ist so etwas wie Verliebtsein. Aufregend. Unsicher. Unbeständig. Damit es anhält, strengt man sich an, passt sich an, man muss immer was tun. Man muss es immer Recht machen.
Die Folgen: Man hält es nie lange aus. Oder zu lange.
Vielleicht wird Dir bereits jetzt klar, warum mich diese Folge so viel Zeit gekostet hat. Aus einer unsicheren Bindung, kann so unglaublich viel entstehen, je nach Kombination und Interaktion.
Unberechenbarkeit wird mit Liebe verwechselt, es erinnert an das Gefühl, dass auch in der Kindheit vorherrschte, hier muss ich was tun, hier muss ich funktionieren, hier ist es nicht sicher, hier bin ich zu Hause, denn hier weiß ich, wie ich mich zu verhalten habe und was zu tun ist.
Ein liebevoller Mann, der einem die Sterne vom Himmel holt, ja danach sehnst Du Dich vielleicht, hast Du ihn aber, dann fragst Du Dich entweder, was mit ihm nicht stimmt, traust ihm nicht, unterstellst ihm dubiose Gründe, warum er mit Dir zusammen ist oder aber Du langweilst Dich, weil er Dich ja für alles feiert. Er stellt keine Herausforderung dar, Du musst ihn nicht jeden Tag aufs neue überzeugen, um ihn kämpfen, Dich anstrengen. Das ist praktisch so, als hättest Du Dich auf nen Marathon vorbereitet und nun kommst Du zum Start und weil Du der einzige Mensch bist, der sich angemeldet hat, kriegst einfach nen Pokal - ohne laufen zu müssen. Der ist nichts wert. Der hat keine Bedeutung.
Und hier kommen wir nun in den EGO-Bereich. Liebe, Sicherheit, Vertrauen, alles schön und gut, aber Du hast das Gefühl nicht genug zu sein, das Gefühl etwas tun zu müssen, zu kämpfen… Die Gleichung ist logisch: Je mehr ich mich anstrenge, desto mehr werde ich geliebt. Sobald sich diese These nicht bestätigt, fühlst Du Dich unwohl, unsicher, ungeliebt oder langweilst Dich.
Unsicher-ambivalent gebundenen Menschen haben kaum einen Bezug zu sich selbst, daher ist Unabhängigkeit für sie gleichzusetzen mit Unsicherheit. Sie möchten nicht alleine sein und können es auch irgendwie nicht, zumindest ist ihr Leben alleine nicht so lebenswert. Um wen sollen sie sich denn kümmern? Von wem werden sie denn dann geliebt? Unsicher-ambivalent gebundene Menschen verwirklichen sich durch Andere. Sie werden einerseits gerne gebraucht, aber da sie selbst kaum ein Maß finden und sich nur schwer abgrenzen können, kann es hier schnell zu Frust kommen, wenn sie „ausgenutzt“ werden. Manchmal fühlt es sich jedenfalls so an, als würde man sie ausnutzen. Das hat jedoch eher etwas damit zu tun, dass sie eben nicht nein sagen und sich selten beschweren, aus den zuvor genannten Gründen, sie suggerieren ihren Mitmenschen also eine Stärke und Lebensfreude und erledigen Dinge mit Leichtigkeit. Wie anstrengend es ist, wie sehr sie sich zum Teil verbiegen müssen oder was sie absagen mussten, nur um da zu sein, das wird verschwiegen.
Unsicher-Ambivalent gebundenen Menschen haben Angst sich so zu zeigen wie sie sind, weil das, was oder wer sie sind eben nicht reicht, zumindest glauben sie das, wenn sie sich doch mal gehen lassen, sich fallen lassen und zeigen und dann keine Ablehnung erfahren, besteht die Gefahr, dass sie sich im Nachhinein so sehr schämen, oder aber dem Anderen unterstellen es nicht ernst zu meinen oder komische Absichten zu haben. Korrigierende Erfahrungen werden also aufgrund von zwei Aspekten verhindert:
Menschen die unberechenbare Bezugspersonen erlebt haben, fühlen sich am Wohlsten in Gesellschaft, denn nur hier können sie ihr sein im Außen leben. Hier können Sie ihren mangelnden Selbstwert durch Bestätigung ausgleichen, indem sie sich besonders gut, toll, nett, hilfsbereit, usw. verhalten. Nähe ist für sie enorm wichtig und diese entsteht eben durch Anpassungsbereitschaft. Plakativ, eine Umarmung funktioniert nur, wenn beide die Arme ausbreiten und sich dem Anderen Menschen anpassen. Das gilt nicht nur für körperliche Nähe, sondern eben auch für emotionale Nähe. Der Verzicht auf Autonomie ist ein sehr geringer Preis, gemessen daran, welche Überwindung, welche Emotionen und welche Not und Überforderung mit Unabhängigkeit und Autonomie einhergehen. Außerdem benötigen sie neben der Nähe eben auch sehr viel Anerkennung, denn diese ziehen sie nicht aus sich selbst. Alles was sie leisten und tun, erfüllt sie nicht mit Stolz, sondern ist selbstverständlich, bis ihnen mal jemand sagt, dass das was sie leiste und tun echt bemerkenswert ist.
Sie verzichten auch nicht gänzlich auf Selbstverwirklichung, ihre Verwirklichung des Selbst ist nur leider verzerrt, weil sie glauben, sie müssten sich im Außen, in Anderen selbstverwirklichen. Ein Mensch mit einem hohen Nähebedürfnis, kann durchaus Single sein, dieser Status ist jedoch sehr negativ behaftet, so negativ, dass sie kaum mehr wählerisch sind und lieber kurzfristig mit irgendwem zusammen sind, als alleine zu sein. Oder aber sie kompensieren ihre Einsamkeit durch Freunde. Unverbindlicher Sex jedoch ist kein Option, denn jedes Mal wenn sie es vielleicht ausprobieren, verlieben sie sich. Verlieben im Sinne von, ja, er hat zwar gesagt, ihm geht es nur um das Eine, aber ICH werde ihn bekehren! Ob das funktioniert ist fraglich, aber das ist erstmal egal, Hauptsache es gibt eine Aufgabe, Hauptsache sie haben was zu tun. Für Außenstehende ist dieses Verhalten, sich permanent in jemanden zu verlieben und wenn gerade niemand greifbar ist, sich dem Ex zuzuwenden schwer nachvollziehbar und anstrengend. Denn sie sehen vor allem das große Leid. Doch dieses Leid ist deutlich geringer, als das Leid, wenn man sich selbst überlassen ist. Also sorgt man lieber für Herzschmerz und nährt sich durch Pläne, Hoffnungen, Illusionen und Analysen des Schwarms.
In einer Beziehung hören diese Menschen häufig den Vorwurf, dass sie sehr einengen und Druck beim Anderen auslösen, weil sie suggerieren, dass das Maß an Zuwendung, das sie geben auch für sich selbst erwarten. Das eigene Selbstvertrauen ist sehr gering und offenkundig: Warum liebst Du mich eigentlich? Wer bin ich denn schon? Ich habe Dich nicht verdient, hierdurch signalisieren sie eine Bedürftigkeit und Abhängigkeit, werden sie jedoch damit konfrontiert, wehren sie sich immens: Ich verlange doch nicht zu viel! Insgeheim haben sie selbst auch die Sorge, dass sie zu viel brauchen, andererseits möchten sie doch nur bekommen, was sie selbst geben, das haben sie doch verdient, wo sie sich doch immer so anstrengen, immer an alle Anderen denken.
Diese Ambivalenz, wird dann mit noch mehr Anstrengung gelöst, vielleicht muss ich noch genügsamer werden und noch mehr geben?!
Da ihre Gleichung eben für sie ein Fakt ist: Je mehr ich mich anstrenge, desto mehr werde ich geliebt, gilt diese Gleichung auch für die Liebe, die sie erwarten, strengt sich der Andere nicht so sehr an, ist nicht so aufmerksam, dann fühlen sie sich nicht geliebt - logisch. Es gibt nur zwei Erklärungen für ihren Mangel: Entweder sind sie es nicht wert oder sie strengen sich nicht genug an. Das ihr Maß an Nähe, ihr Bedürfnis nach Nähe deutlich höher ist, vielleicht zu hoch, ist ihnen vielleicht bewusst, ist Dir vielleicht bewusst, aber… so ist es eben. Bedürfnisse können nicht weggeredet werden.
Das Problem, egal wie genügsam sie mittlerweile sind, oder Du mittlerweile bist, irgendwann wirst Du an den Punkt kommen, dass Du doch mehr brauchst und eigentlich alles, damit ist dein gegenüber dann überfordert und bekommt rasch das Gefühl, dass Du zu viel brauchst und / oder er/sie selbst nicht reicht. Unschön, für beide.
Fazit: Ein Mensch hat gelernt, dass man um Anerkennung, Aufmerksamkeit und Liebe kämpfen muss glaubt:
Man...⠀
• muss doch hilfsbereit und freundlich sein.⠀
• muss seine Sache gut machen.⠀
• darf niemanden enttäuschen.⠀
• darf sich nicht beschweren.⠀
• muss sich doch anpassen.⠀
• darf nicht schwach sein, darf sich nicht gehen lassen
Und natürlich macht es Sinn freundlich zu sein und es ist in gewissen Situationen auch nicht verkehrt sich anpassen zu können. Aber es gibt einen Unterschied ob man sich bewusst und intrinsisch für ein Verhalten entscheidet oder ob man eine existentielle Not verspürt und sich gewisse Verhaltensweisen verbietet: ⠀
Wenn man sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse so sehr vernachlässigt, um geliebt zu werden. Weil man diesen wahnsinnig großen LEISTUNGSdruck verspürt.⠀
Oft merkt man es selbst lange nicht, denn immerhin dieses eine Bedürfnis (nach Anerkennung) wird ja dadurch „vermeintlich“ gestillt. ⠀
Daher entsteht eine Spannung, eine Frustration im Inneren und zurecht fragst Du Dich vielleicht:
…weil Du Dich nicht zeigst. Vielleicht weil Du Dich selbst nicht kennst und somit nicht sehen kannst. Weil Du Dir verbietest Dich so zu zeigen, wie Du bist, denn es gibt, aus Deiner Sicht, Dank Deiner Erfahrungen, so viele Aspekte für die Du Dich schämst, Die man ja nicht zeigen, sagen, tun oder brauchen darf.
Dir wurde beigebracht, dass man für Liebe kämpfen muss. Doch die Liebe, die ist da. Die gibt es einfach so. Und wenn sie das nicht war, als Du ein Kind warst und Liebe gebraucht hättest, ist es nur logisch und verständlich, dass Du glaubst, dass Liebe eben kein Geschenk ist. Das Liebe eben nicht einfach da ist. Und dass Du diese Liebe nicht bekommen hast, hatte nichts mit Dir zu tun, sondern mit den Themen und Umständen Deiner Bezugspersonen.
Du warst und bist schon immer genug gewesen, aber woher sollst Du das wissen wenn all Deine Erfahrungen oder auch nur 2-3 Erfahrungen Dir das Gegenteil suggeriert haben.
Dein Verhalten und Deine Strategien, die Du Dir dann jedoch angeignet hast, waren damals wichtig und gut, haben aber zuletzt und im Heute dafür gesorgt, dass Du immer wieder bestätigt wirst:
Wenn Du Dich nicht zeigst, kann Dich auch niemand sehen.
Wenn Du suggerierst, dass Dir alles leicht fällt, kann auch niemand Deine Anstrengung sehen und Dich hierfür loben.
Wenn Du suggerierst, dass Du nichts brauchst, wird man Dir auch nichts geben.
Und all das, tut so weh, denn Du hast Recht, Du hast und hättest es dennoch und trotzdem verdient. Aber es gibt so viele Menschen, mit so vielen Themen und es gibt eben auch Menschen, die Dich respektieren und lieben - ohne dass Du Dich verstellst.
Und wenn Du sagst, dass Du nichts brauchst, wäre es doch übergriffig Dir dennoch was zu geben.
Wenn Du sagst, dass es keine große Anstrengung war, wäre es übergriffig, Dir zu unterstellen, dass es doch anstrengend war.
Wenn Du sagst, Dir ist es egal welche Brötchenhälfte Du nimmst und dann freiwillig auf diese gewünschte Brötchenhälfte verzichtest, ist es unfair Deinem Gegenüber zu unterstellen, er sei egoistisch.
…und falls Du Dich in dieser Folge sehr angesprochen gefühlt hast, sehr aufmerksam und reflektiert bist, dann könntest Du Dich nun erneut schämen, dafür, dass Du so übergriffig bist… ja, vielleicht bist Du es. Ja, vielleicht schämst Du Dich. Das kann und will ich Dir nicht nehmen. Du hast Deine ganz eigenen und persönlichen Gründe, warum Du so bist und der Scham der Übergriffigkeit ist immer noch besser als das Schamgefühl Deines Seins. Und vielleicht, vielleicht nutzt Du diese neuen Erkenntnisse, das Schamgefühl, um Dir die Erlaubnis zu geben, Schritt für Schritt Du selbst zu sein und Dein Sein auch zu zeigen.
Denn so hart es klingt, Deine Angst vor Verlust bestätigt sich ja auch immer wieder TROTZ Deiner Anstrengung und Deiner Strategien.
Was kannst Du also tun?
Versuche Dir bewusst zu machen, dass Deine Aufopferung und Dein „nicht einfordern“ von Bedürfnissen ein Schutzmechanismus ist und frage Dich wovor genau Du Dich beschützt und ob das wirklich in jeder Situation erforderlich und sinnig ist.
Mache Dir bewusst, dass Dein Verhalten, Deine Strategien aus Deiner Kindheit kommen und Du nun - alleine durch Deine Erfahrung, Dein Alter, Dein Zuhause gar nicht mehr so viel Schutz benötigst, wie damals als Kind. Und dass Du vermutlich noch immer auf das Gefühl wartest, für Deine Eltern genug zu sein und vielleicht wirst Du das niemals bekommen und das ist furchtbar traurig, aber die elterliche Liebe ist nicht die Eintrittskarte ins Leben. Du darfst Sein und Du darfst Leben, auch ohne deren Stolz und Liebe.
Mache Dir bewusst, dass Du Liebe mit so etwas wie Angst verwechselst oder einem Kampf. Ja, für Dich ist Liebe ein unsicheres und unberechenbares Gefühl. Sicherheit fühlt sich schnell unangenehm-langweilig an, oder aber Du wirst dadurch nur noch misstrauischer.
Versuche Dich, zunächst ab und zu abzugrenzen, Dinge einzufordern, ermögliche Dir selbst korrigierende Erfahrungen einerseits und achte auf Deine Kapazitäten, wer nur an andere denkt, vergisst sich nicht nur selbst, sondern hat auch kaum Energie sich selbst Gutes zu tun… Du wirst feststellen, wie viel leichter Dein Leben wird, allein schon dadurch, dass der Frust: „Ich tue alles für ihn/sie und was bekomme ich?!“ abnimmt, sobald Du aufhörst Dich permanent zu verbiegen und anzustrengen.
Da Du Dir vielleicht hierfür ein Worst-Case-Scenario oder/und eine Liste wünscht und sie womöglich mit Deiner großen Angst selber erarbeitest und es dann nach einem Kosten-Nutzen-Verfahren gelähmt wirst, hier eine kleine Liste von Herausforderungen, die nun vor Dir liegen:
- Wenn Du beginnst Dich mehr um Dich selbst und weniger um Andere zu kümmern, bist Du auch weniger der Gunst der Anderen ausgeliefert. Es kann dennoch passieren, dass sich Menschen von Dir abwenden, insbesondere dann, wenn eure Beziehung bisher sehr einseitig war.
- Wenn Du nun beginnst Dich zur Priorität zu machen und zunächst auf Deine eigenen Bedürfnisse zu schauen, könnten Menschen in Deinem Umfeld irritiert sein, immerhin warst Du bisher immer da. Diese Diskrepanz könnten sie sich mit plötzlichem Egoismus erklären, doch bedenke: Ein Egoist ist jemand der gierig alles nimmt was er kriegen kann, ohne Rücksicht auf Verluste, weil er glaubt, es sei nicht genug für alle da. Jemand der sich selbst liebt, kennt und stillt seine Bedürfnisse, er nimmt was er braucht und gibt was er kann. Du hast zuvor fast ausschließlich gegeben, Du musst und darfst Dich nachnähren und gibst neuerdings nur wenn Du kannst und eben nicht mehr als Du hast.
- Selbstliebe bedeutet übrigens auch nicht, dass man alles an sich toll findet oder das man sich erst selbst lieben darf und kann wenn man perfekt ist, Selbstliebe bedeutet vor allem Selbstakzeptanz und sich seiner Selbst bewusst zu sein. Es wird also weiterhin ein paar Selbstzweifel geben. Aber da Du Dir bspw. darüber bewusst geworden bist, dass Du ab und zu Hilfe brauchst und das auch annimmst - ohne Dich zu verurteilen, darfst Du auch selbstverständlich um Hilfe bitten, bekommst Du ein „Nein“ richtet sich dieses nicht gegen Dich, sondern zeigt Dir lediglich, dass Du ein „Ja“ wirklich annehmen kannst und nicht misstrauisch sein brauchst, weil diese Person offensichtlich gut auf sie selbst aufpasst, das musst Du nicht stellvertretend für sie übernehmen.
- Diese neue Perspektive, die Selbstliebe sorgt nicht plötzlich für Sicherheit - leider. Im Gegenteil, denn Du verlässt Deine vermeintliche Komfortzone mit all den Strategien und Ängsten, die Dir nicht gut tun. Es ist paradox, dass sich unsere Komfortzone auch dann gut anfühlt, wenn wir dort kleingehalten werden, das Gefühl haben nicht autonom entscheiden zu dürfen, wenn wir fremdbestimmt sind, zweifeln und Angst haben. Aber das kennen wir eben, es ist vertraut. Statt etwas zu ändern, finden wir Gründe und Ausreden. Auf dem Weg zur Selbstliebe gilt es zunächst diese bekannte Komfortzone zu verlassen und eine aufrichtige Komfortzone zu erschaffen, die uns nicht nur am Leben hält, sondern uns auch mit Lebensfreude und Kraft nährt, ohne Resignation: Mich liebt eh keiner… und Ohnmacht: Warum hilft mir niemand? Sieht mich keiner?
- Du rückst in den Mittelpunkt, bist oberste Priorität in Deinem Leben und das fühlt sich nicht nur unangenehm an, sondern das Schamgefühl und auch ein schlechtes Gewissen wird Dich zunächst begleiten. Du wirst nach wie vor nicht im Mittelpunkt der Anderen stehen, das was Du all die Jahre versucht hast, es wird somit vielleicht sogar weniger Anerkennung vom Außen geben, aber keine Sorge, da gibt es ja dann plötzlich jemanden der das ausgleicht und das bist Du selbst.
Du bist nicht überzeugt oder aber hättest jetzt gerne gewusst warum genau Du eigentlich anfangen sollst Dich zu verändern?
Erwischt. Du sollst Dich nicht ändern und Du musst Dich nicht ändern. Du darfst.
Ein zu hohes Bedürfnis nach Nähe, steht ähnlich wie ein zu hohes Bedürfnis nach Autonomie für einen Mangel an Selbstliebe.
Selbstliebe bedeutet, dass man sich und seine Bedürfnisse kennt und diese stillt. Es bedeutet, dass man gut für sich sorgt, auf allen Ebenen.
Falls Du Dir das nun wünscht und danach streben möchtest wünsche ich Dir von Herzen viel Erfolg, Erfolg dabei Dich zu verstehen, Dich für Dein Sein nicht mehr abzuwerten und die Schuld bei Dir zu suchen und vor allem wünsche ich Dir korrigierende Erfahrungen.
Wenn Du unsicher bist, ob das reicht, oder wie konkret Du nun vorgehen und was Du tun kannst und Dir Hilfe wünscht, dann kontaktiere mich.
Ich arbeite als personzentrierte Beraterin nicht mit Analysetools, Tipps oder Ratschlägen, sondern mein Werkzeug habe ich eben beschrieben.
Ich begleite Dich wertfrei, ich möchte Dich verstehen und helfe Dir so, Dich selbst zu verstehen. Die Erfahrung, dass Dich jemand nicht bewertet, sondern Dir bedingungslos positiv zugewandt ist, Dich verstehen möchte und Dir somit ein gutes Vorbild ist, ist und war für viele Menschen sehr heilend. Mein Anspruch ist es jedoch nicht Dich zu heilen, sondern Dich zu begleiten bei Deiner eigenen Heilung. Ich bin keine Psychotherapeutin, ich habe keine Heilerlaubnis, ich habe eine zertifizierte Weiterbildung zur Personzentrierten Beraterin absolviert und habe dort eine Haltung erfahren, verstanden und verinnerlicht, die es mir ermöglicht ein unerschütterliches Vertrauen in Dich zu haben und für Dich die Bedingungen und den Rahmen zu schaffen, die Dir bei Deiner Selbstaktualisierung und Entfaltung helfen Dich nachzunähren. Ich spiele Dir nichts vor, ich bin authentisch und unterstelle Dir bei jedem Verhalten sehr nachvollziehbare Gründe, die Dir helfen Dich selbst nicht mehr abzuwerten, sondern zu verstehen. Das ist keine Magie, sondern Menschlichkeit in ihrer Reinform, wie wir sie heute kaum mehr erleben aufgrund der vielen Themen jedes Einzelnen, der Schutzstrategien aufgrund der Ängste und Verletzungen die sie erfahren haben.
Literatur / Quellen
Allen, J. P., Marsh, P., McFarland, C., McElhaney, K. B., Land, D. J., Jodl, K. M., & Peck, S. (2002): Attachment and autonomy as predictors of the development of social skills and delinquency during midadolescence. Journal of consulting and clinical psychology, 70, 56.
Ainsworth, M. D., Blehar, M., Waters, E., & Wall, S. (1978): Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Lawrence Erlbaum.
Bartholomew, K., & Horowitz, L. M. (1991): Attachment styles among young adults: a test of a four-category model. Journal of personality and social psychology, 61, 226.
Bowlby, J. (1969): Bindung. Frankfurt: Fischer.
Bringle, R. G., & Bagby, G. J. (1992): Self-esteem and perceived quality of romantic and family relationships in young adults. Journal of Research in Personality, 264, 340-356.
Baumeister, R.F. & Leary, M.R. (1995): The need to belong: Desire for interpersonal attachments as a fundamental human motivation. Psychologicl Bulletin, 117, 497-529.
Nast, M. (2021): Generation Beziehungsunfähig - Die Lösungen. Edelbooks.
Nast, M. (2016): Generation Beziehungsunfähig. Edelbooks.
Neumann, E., Rohmann, E. & Bierhoff, H.W. (2007): Entwicklung und Validierung von Skalen zur Erfassung von Vermeidung und Angst in Partnerschaften – Der Bochumer Bindungsfragebogen (BoBi). Diagnostica, 53, 33-47.
Pettem, O., West, M., Mahoney, A., & Keller, A. (1993): Depression and attachment problems. Journal of Psychiatry and Neuroscience, 18, 78-81.
Rogers, Carl R. (2015): Der neue Mensch (Konzepte der Humanwissenschaften) - Konzepte der Humanwissenschaften. 11.Auflage. Klett-Cotta.
Rogers, Carl R. (2009): Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. 17. Auflage. Klett-Cotta.
Stahl, S. (2017): Jeder ist beziehungsfähig. Kailash-Verlag, München.
Stahl, S. (2015): Das Kind in dir muss Heimat finden. Kailash-Verlag, München.